DiGA in Deutschland: Zwischen Innovationsmotor und Regulierungsbremse


Mit den DiGA seit 2019 hat sich Deutschland tatsächlich international als Vorreiter positioniert. Luisa Wasilewski und Jonas Albert ordnen das Thema für uns ein.

Für Pharmaunternehmen liegt der größte Hebel digitaler Gesundheitsanwendungen nicht allein in der kurzfristigen Monetarisierung über das DiGA-Verzeichnis – sondern in der mittel- bis langfristigen strategischen Nutzung entlang des gesamten Versorgungspfads. (Foto von Onur Binay auf Unsplash)

Zur Info: Das Thema DiGA ist ein Schwerpunkt, der in der Aprilausgabe des PM—Report erschienen ist, den wir hier verkürzt wiedergeben.

Bestandsaufnahme DiGA

Laut dem aktuellen Bericht des GKV-Spitzenverbands wurden in den vergangenen Jahren rund 374.000 DiGA von gesetzlich Versicherten genutzt – eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr. Gleichzeitig sind die durchschnittlichen Herstellerpreise im ersten Jahr nach Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis um 46% gestiegen, was die Debatte um Nutzen und Kosten dieser Anwendungen weiter anheizt. Nur eine von 19 neu aufgenommenen DiGA konnte im letzten Berichtsjahr einen positiven Versorgungseffekt belegen.

Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage, welche Nachweise für die Aufnahme einer DiGA ins Verzeichnis erbracht werden müssen. Die Debatte um DiGA zeigt exemplarisch das Spannungsfeld zwischen regulatorischer Sicherheit und Innovationsförderung im deutschen Gesundheitswesen. Einerseits ist es essenziell, dass digitale Anwendungen ihren Nutzen belegen und Patientinnen und Patienten einen tatsächlichen Mehrwert bieten. Andererseits dürfen die Anforderungen nicht so hoch sein, dass sie Innovationen behindern und potenziell wirksame digitale Lösungen vom Markt verdrängen.

Dr. Alexandra Widmer, Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie, teilt in verschiedenen Formaten ihre praktischen Erfahrungen mit DiGA und berichtet über die Reaktionen ihrer Patienten darauf. In ihrem Podcast docsdigital betont sie immer wieder die Notwendigkeit, Patienten aktiv in die Nutzung von DiGA einzubinden und deren Anwendung im Behandlungsprozess zu begleiten. 

Sie stellt fest, dass viele Patienten ohne eine ausführliche Erklärung und Nachverfolgung die verschriebenen DiGA nicht nutzen: „Von ärztlicher Seite braucht es ein volles Commitment für die DIGA und Einblick in die Inhalte, um die Patient:innen zu erreichen. Ansonsten löst der Patient das Rezept nicht ein.“

Digitale Gesundheitsanwendungen strategisch weiterdenken: Neue Perspektiven für Pharma

DiGA zur DTx: Es ist Zeit für neue pharmazeutische Geschäftsmodelle finden Luisa Wasilewski, Gründerin und Geschäftsführerin Pulsewave, und Jonas Albert, Partner bei der fbeta GmbH. 

1. DiGA als strategisches Instrument zur Marktvorbereitung und Patientensteuerung

Eine eigene DiGA kann für pharmazeutische Unternehmen weit mehr sein als ein digitales Begleitangebot. Richtig eingesetzt, lässt sich eine solche Anwendung bereits in der Frühphase des Therapiepfads nutzen – insbesondere bei chronischen Erkrankungen –, um gezielt Patient:innen zu identifizieren und den Zugang zur nachfolgenden Pharmakotherapie strategisch vorzubereiten. 

Die Idee: Patient:innen erhalten eine strukturierte digitale Erstversorgung mit konservativen, nicht medikamentösen Elementen. Währenddessen dokumentiert die DiGA indikationsspezifische Verläufe, Symptome und Reaktionsmuster. Dies schafft die Grundlage für eine medizinisch wie wirtschaftlich fundierte Entscheidung zur Arzneimittelverordnung.

Nutzen für Pharma:

  • Neue Patientengruppen können frühzeitig identifiziert und in das Versorgungssystem integriert werden.
  • Die DiGA liefert Daten, die Regressrisiken für Ärzt:innen minimieren und so die Verordnungsbereitschaft erhöhen.
  • Eine eigene Lösung stärkt die Position gegenüber konkurrierenden digitalen Erstlinienangeboten.
  • Der Markteintritt erfolgt nicht erst mit dem Medikament, sondern bereits in der vorhergehenden Versorgungsebene.

 

2. DiGA als Steuerungstool für individualisierte Pharmakotherapie

Viele moderne Arzneimittel zeigen ihre volle Wirksamkeit nur unter bestimmten Bedingungen – etwa bei variabler Dosierung, kontextabhängiger Einnahme oder stark individueller Metabolisierung. Hier bieten digitale Anwendungen enorme Chancen: Sie können die Medikation intelligent anpassen, dokumentieren und überwachen. Eine entsprechend ausgestaltete DiGA könnte Daten zu physiologischen Parametern, Begleitmedikation, Lebensstilfaktoren oder Einnahmezeiten erfassen – und so als digitaler Controller der Pharmakotherapie fungieren. Die Ergebnisse: bessere Adhärenz, höhere Wirksamkeit und geringere Nebenwirkungen.

Nutzen für Pharma:

  • Therapieeffizienz steigt, da die Arzneimittelanwendung patientenindividuell optimiert wird.
  • Die DiGA könnte (!) in der Nutzenbewertung bei Preisverhandlungen als positiver Zusatznutzen berücksichtigt werden.
  • Differenzierung gegenüber Mitbewerbern: Die Kombination aus Arzneimittel + DTx schafft ein Alleinstellungsmerkmal.
  • Langfristig entsteht eine neue Wirklogik: nicht „nur Wirkstoff“, sondern „Wirkstoff plus Steuerung“.

 

3. Digitale Therapeutika als Orchestrierer komplexer Therapieverläufe 

Insbesondere bei chronisch Kranken mit komplexem Verlauf (z. B. multimorbide Patient:innen) können Digital Therapeutics (DTx) der Risikoklasse IIb eine übergeordnete Steuerungsfunktion übernehmen. Die Anwendung wird zur digitalen Leitlinie, die auf Basis von Verlaufsdaten eigenständig nächste Schritte vorschlägt – von der Eskalation der Medikation bis zur Aktivierung ärztlicher Intervention.

Das Resultat: eine kontinuierlich überwachte, datengetriebene und adaptiv gesteuerte Versorgung, in der pharmakologische Therapiebausteine gezielter, früher und sicherer zum Einsatz kommen können – unabhängig von der Verfügbarkeit ärztlicher Ressourcen.

Nutzen für Pharma:

  • Steigerung der Verordnungszahlen, da Medikamente gezielt und standardisiert zum Einsatz kommen.
  • Verbesserte Patientensicherheit durch frühzeitige Interventionen auf Basis digitaler Schwellenwertanalyse.
  • Nachhaltige Marktpositionierung als Anbieter integrierter Versorgungslösungen.
  • Entwicklung eines datenbasierten Ökosystems um das Medikament, das langfristige Bindung und neue Geschäftsmodelle ermöglicht.

 

Deep Dive: 2024/25 – das Jahr der DiGA-Akquisitionen

Der Markt für M&A im DiGA-Sektor hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Bereits 2024 wurden zahlreiche Transaktionen bekannt – 2025 setzt diesen Trend fort. Beispiele:

  • Selfapy wurde von Medice – The Health Family übernommen.
  • Sonormed ging an InfectoPharm.
  • CaraCare, nach Insolvenz (in 2024), wurde von Bayer akquiriert.
  • Der DiGA-Anwärter kontina wurde bereits 2023 von Apogepha übernommen.
  • Aktuell wird über weitere Transaktionen – etwa Peerfood oder vitadio – spekuliert. 
  • Das Muster ist eindeutig: DiGA-Unternehmen mit innovativen Produkten scheitern nicht an der medizinischen Wirksamkeit, sondern an der wirtschaftlichen Skalierung. 
  • Für Pharma entsteht daraus ein attraktives Opportunitätsfenster.

 

Strategien für den Einstieg: Vom Partnering zur Akquisition

(1) Partnerschaften: Kooperationen mit DiGA-Startups ermöglichen Pharmaunternehmen erste Erfahrungen mit digitalen Therapieformen. Häufig erfolgt dies über Vertriebskooperationen oder gemeinsame Studien. Pioniere wie Pohl-Boskamp haben hier den Weg geebnet. Vorteil: geringe Investitionskosten bei erfolgsabh.ngiger Umsatzbeteiligung. Herausforderung: Den pharma-getriebenen Vertriebsansatz neu konzipieren, um neuartige (digitale) Produkte zu vertreiben.

(2) Whitelabel-Modelle: Insbesondere mittelständische Pharmafirmen setzen zunehmend auf Whitelabel-Lösungen. Hier übernimmt der DiGA-Hersteller die Entwicklung und regulatorische Umsetzung, während Pharma den Marktzugang gestaltet. Ergebnis: ein harmonisiertes Portfolio mit geringem Risiko und hoher Markenanbindung.

(3) Co-Development: Ein engeres Kooperationsmodell – etwa über Joint Ventures – ermöglicht die gemeinsame Entwicklung neuer digitaler Lösungen. Doch Ownership- und Risikofragen bleiben oft ungeklärt, weshalb sich diese Strategie bislang nur zögerlich durchsetzt.

(4) Eigene Entwicklung: Einige Pharmaunternehmen haben versucht, digitale Anwendungen intern zu entwickeln. Der Erfolg bleibt meist aus: fehlende interne Digitalexpertise, langsame interne Prozesse und hohe Kosten sowie hohe regulatorische Hürden verhindern häufig den Abschluss des Projektes.

(5) M&A-Transaktionen: Die derzeit sichtbarste Strategie: gezielte Akquisitionen. DiGA-Unternehmen in finanzieller Schieflage oder mit stagnierendem Wachstum werden von Pharma übernommen – mit dem Ziel, zertifizierte digitale Lösungen in das eigene Portfolio zu integrieren.

Luisa Wasilewski (li) und Jonas Albert (re)

Luisa Wasilewski, Gründerin und Geschäftsführerin Pulsewave, und Jonas Albert, Partner bei der fbeta GmbH. 

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