Arzneimittel-Kompass 2022: „Qualität der Arzneimittelversorgung“


Der Arzneimittel-Kompass 2022 hat laut Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), eine Kernaussage: "Es wird immer mehr Geld für eine immer geringere Versorgungsreichweite ausgegeben.“

Grafik: Arzneimittel-Kompass 2022

Ausgaben für Arzneimittel in 2021

Die Nettoausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel sind im Jahr 2021 um 8,8% auf 50,2 Mrd. Euro gestiegen. Der Trend von überdurchschnittlichen Umsatzsteigerungen setzt sich fort: patentgeschützte Arzneimittel (+14,4%), Orphan Drugs (+24,7%) und biologische Arzneimittel (+12%). Schröder meint ganz trocken dazu: "Diese drei Marktsegmente zeichnen sich dadurch aus, dass sehr viel Geld für wenige Medikamente aufgebracht wird, von denen letztendlich auch wenige Menschen profitieren.“

Im vergangenen Jahr wurde mit patentgeschützten Arzneimitteln im GKV-Bereich ein Umsatz von 27,5 Mrd. Euro erwirtschaftet. Damit wurde auch 2021 erneut mehr als jeder zweite Euro der Arzneimittelkosten in diesem Bereich ausgegeben (52,5 %). Gemessen an verordneten Tagesdosen entfielen jedoch nur 6,5% der Versorgung auf patentgeschützte Medikamente. Seit nunmehr zehn Jahren treiben damit insbesondere neue Arzneimittel das Umsatzwachstum, tragen aber gleichzeitig immer weniger zur Versorgung bei, so das Fazit im Arzneimittel-Kompass.

Großteil neuer Medikamente ohne Zusatznutzen

Und weiter wird im Kompass aufgezeigt: Bei 61,5% der Patientengruppen hat sich im AMNOG-Bewertungsverfahren kein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie gezeigt. Bei 40% der untersuchten Gruppen kann eine Verbesserung der Behandlungsqualität erwartet werden. In den letzten zehn Jahren hat die GKV 16,6 Med. Euro für diese Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen ausgegeben. Allein im Jahr 2021 belief sich die Summe auf 3,8 Mrd. Euro, bemängelt der Kompass.

Diese Entwicklung ist auch bei den Orphan Drugs, festzustellen: Immerhin 13% aller Ausgaben entfallen auf Orphan Drugs, mit einem marginalen Verordnungsanteil nach Tagesdosen von gerade einmal 0,07%. So kostet eine tägliche Behandlung mit einem solchen Arzneimittel durchschnittlich 213,53 Euro, die mit einem Nicht-Orphan Arzneimittel hingegen nur 0,94 Cent, wird im Kompass diese Kosten gegenüber gestellt. Gleichzeitig war bei über zwei Drittel der Patientengruppen, die diese Medikamente verordnet bekamen, bisher kein oder nur ein nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen festzustellen.

Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK-Bundesverband, fordert, dass „deshalb die Zeit reif ist, die Ausnahmeregelungen für Orphan Drugs endlich abzuschaffen und die Versorgungsqualität damit zu verbessern.“

Und damit nicht genug mit der Kritik: Die mangelnde Balance zwischen dem Nutzen eines Arzneimittels und den hohen Preisen sowie den sich daraus ergebenden Einnahmen und Gewinnen verschärfe sich seit Jahren durch immer neue Preisrekorde. Schröder schlägt vor: „Lösungsansätze zur Ermittlung von fairen Preisen, wie sie in der Wissenschaft diskutiert werden, könnten das Gleichgewicht wieder herstellen.“

Besonders ältere Patienten von Polypharmazie betroffen

Lag der Verordnungsanteil für ältere Patienten ab 65 Jahren im Jahr 2012 im Mittel noch bei 3,9 verschiedene Medikamenten, so waren es im Jahr 2021 im Mittel bereits 4,4 Medikamente pro Tag. Somit ist weit mehr als die Hälfte der älteren Patientinnen von Polypharmazie betroffen. Nach der neuen PRISCUS 2.0-Liste erhielt im Jahr 2021 knapp die Hälfte (49,5 %) der insgesamt 16,4 Mio. älteren GKV-Versicherten mindestens ein potenziell unangemessenes Medikament (PIM) verordnet.

Prof. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke und Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompass, zieht daraus folgende Schlüsse: „Hinzu kommt, dass die den Leitlinien zugrundeliegenden Studien multimorbide und gebrechliche Patientinnen meist ausschließen, so dass auch die Evidenz für den Nutzen in dieser Population nicht gesichert ist. Wir haben kein Erkenntnisproblem, welche Arzneimittel bei älteren Menschen potenziell unangemessen sind, sondern ein Umsetzungsproblem. Die PRISCUS-2.0-Liste, die demnächst von unserem Institut kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, stellt den Transfer in die Praxis sicher.“

Angemessene Preise für Medikamente

Dass mit dem gerade verabschiedeten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) künftig der verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel bereits nach sieben statt bisher zwölf Monaten nach Markteintritt gelten soll, bewertet Richard als längst überfällig. "Das reicht aber nicht aus. Hersteller können immer noch sechs Monate lang hohe Gewinne für die von ihnen festgesetzten Preise einfahren, unabhängig davon, ob das neue Arzneimittel einen Mehrwert für die Versorgung bringt oder nicht.“

Und sie findet außerdem: „Der verhandelte Erstattungsbetrag muss rückwirkend zum Markteintritt gelten. Für einen angemessenen Preis von Beginn an sollte ein Interimspreis als vorläufiger Abrechnungsbetrag für jedes neue Arzneimittel festgelegt werden."

Unverständlich sei, weshalb die breite Forderung nach der Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf sieben Prozent weiterhin unberücksichtigt bleibe. Dies hätte auch langfristig zu einer großen Entlastung beigetragen. Bereits ab 2024 stelle sich die Finanzierungsfrage erneut.

Mehr Infos zum Arzneimittel-Kompass 2022 und kostenloser Download finden Sie hier.

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