Thun: Digitalisierung ist vorangekommen


Prof. Dr. Sylvia Thun findet, dass das deutsche Gesundheitswesen einen Neustart gewagt hat.

Prof. Thun im Gespräch mit ATLAS Digitale Gesundheitswirtschaft

 

Im Oktober-Interview zum „Bug des Monats“ des ATLAS Digitale Gesundheitswirtschaft antwortet sie ganz kurz auf die Frage, ob Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens jetzt wirklich vorankommen ist: "Ja. Das kann man auf jeden Fall so sagen."

Thun ist seit Oktober 2021 Universitätsprofessorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) an der Charité Berlin und leitet dort auch den Bereich E-Health und Interoperabilität. 

Digitalisierung am Beispiel von Krankenhäusern

Gefragt danach, wo das deutsche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung steht, schätzt sie die Lage am Beispiel von Kliniken gar nicht so schlecht ein: “Im internationalen Vergleich bewegen sich die Krankenhäuser in Deutschland im Mittelfeld. Das zeigt der Digitalradar, den wir kürzlich veröffentlich haben und bei dem die Kliniken im Durchschnitt 33 von 100 möglichen Punkten erreicht haben. Auf Basis unserer Analyse sind die deutschen Krankenhäuser damit sogar ein kleines Stück weiter als die in Kanada, USA und Australien."

Neue Technik für einen besseren Austausch

Für den besseren Austausch von Daten wird die gematik auf eine andere Technik setzen, wie Thun erklärt: “Ich bin sehr froh, dass die Gematik, die ja in Deutschland die Infrastruktur für das Gesundheitswesen aufbauen soll, bei der Entwicklung von standardisierten Schnittstellen für ISiK zukünftig FHIR nutzt. So wird es nicht nur gelingen, Schnittstellenprobleme zwischen Gesundheitseinrichtungen in Deutschland zu beseitigen, sondern auch international anschlussfähig zu bleiben. Wir bekommen so wirklich Bewegung in die Digitalisierung des Gesundheitssystems. ISiK 3 sieht sogar Schnittstellen vor zum Öffentlichen Gesundheitsdienst. Die MIOS (Medizinischen Informationsobjekte) der MIO42 nutzen glücklicherweise auch den FHIR Standard, so dass ein Austausch zwischen niedergelassenem Bereich, Krankenhaus, DIGAS und der EPA semantisch möglich ist. Gerade in einer Pandemie ist der ungehinderte Datenfluss bedeutend, wie wir in den vergangenen Jahren schmerzlich gelernt haben.”

Müssen sich mit dieser Technik auch die HCPs auseinandersetzen? 

Thun bedauert: “Dieser sehr wichtige Punkt wird leider sehr oft außer Acht gelassen. Schulung ist wichtig, schon in der Ausbildung, aber auch smarte Software. Es geht dabei nicht nur um HL7, sondern auch um Snomed und LOINC und die Bedeutsamkeit der Dokumentation. Bei Snomed geht es ebenfalls um internationale Standardisierung, mit dem Ziel, Daten in elektronischen Patientenakten (ePA) wie Untersuchungen, Diagnosen, Behandlungen, Medikamente oder Laborwerte im Verlauf einer Krankheit oder einer Behandlung strukturiert zu dokumentieren. LOINC ist ein weiteres ebenfalls mit den HL7-Standards arbeitendes System zur eindeutigen Identifizierung und Kodierung von medizinischen Beobachtungen, insbesondere von Laboruntersuchungen. Snomed und LOINC sind neue Fachsprachen. Es ist nicht mehr so, dass man dort einen Begriff suchen muss wie in der ICD-10-Klassifkation, sondern Begriffe in einer guten Software automatisiert beispielsweise in Drop-Down-Listen findet.”

Daten von Patient:innen

Was ist mit den Daten von Patient:innen? Technologisch ist das schon längst alles möglich, denn “viele Anbieter, auch zum Beispiel Apple, nutzen den FHIR-Standard. Für andere Anbieter gibt es digitale Adapter, wenn deren Daten nicht auf diesem Standard basieren. Das Problem ist die mangelnde Öffnung der ePA. Patienten dürfen zwar Daten aus Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) übertragen, die entsprechend zugelassen sind, aber nicht aus privaten smarten Anwendungen. Die geplante Patientenpartizipation und Usability in der Patientenakte lässt sehr zu wünschen übrig,” kritisiert Thun.

Und sie ergänzt noch: “Datenschutzrechtlich wäre eine bessere Patientenpartizipation und Usability in der Patientenakte möglich, aber beides wird zu wenig mitgedacht… Das Problem ist, das zu wenig an den Patienten gedacht wird. Die Selbstverwaltung ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, aber das liegt vielleicht schon im Namen begründet. HL7 hat dort zum Beispiel nie eine Rolle gespielt. Über die Verbindung von Mensch und Technologie wurde dort in den vergangenen 20 Jahren nie wirklich nachgedacht. Immerhin hat sich das in der Gematik völlig verändert. Auch die Organisationen der Selbstverwaltung binden Expertinnen und Experten endlich in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse ein. Das ermöglich die Verbindung von Technologie mit Prozessen. Und das ist entscheidend.”

  • Fast Healthcare Interoperable Resources steht kurz für FHIR oder ausgesprochen “Fire”. 
  • Health Level 7 ist eine Gruppe internationaler Standards für den Austausch von Daten zwischen Organisationen im Gesundheitswesen und deren Computersystemen.

Das ganze Interview können Sie hier nachlesen.

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