Wieler: Rückblende auf die Corona-Zeit


RKI-Präsident Prof. Lothar H. Wieler verlässt zu Anfang April das Institut — nach einer herausfordernden Zeit durch die Corona-Pandemie. In einem Interview mit der ZEIT blickt er zurück. 

RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler freut sich auf neue Herausforderungen abseits des Rampenlichts. (Foto: RKI)

Die öffentliche Rolle der Wissenschaft vs. Politik

Spekuliert worden ist immer wieder über Diskrepanzen zwischen Wieler und den jeweiligen Bundesgesundheitsministern. Im Interview mit der ZEIT meint er dazu: „Meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es, in Ruhe, unaufgeregt und sachlich Empfehlungen zu geben. Entscheiden muss die Politik.“

Wieler ergänzt noch: „In der Öffentlichkeit wurden die Rollen von Wissenschaft und Politik manchmal vermischt, oder mir und dem RKI wurde eine Rolle zugewiesen, die wir nie hatten – und auch nicht wollten.“ Nun fühlt er sich freier ob der Entscheidung, ab April wieder rein wissenschaftlich arbeiten zu können ohne die Verantwortung, das Robert Koch-Institut (RKI) leiten zu müssen.

Betont er aber noch, dass er nie ein Blatt vor den Mund genommen hat. „Auch und vor allem nicht in Besprechungen mit dem Ministerium. Dass in Interviews bewusster kommuniziert wird, ist, denke ich, verständlich. Wichtig ist, dass alle Erkenntnisse, aus denen wir Empfehlungen ableiten, öffentlich zugänglich sind. Das RKI hat alles Wesentliche verschriftlicht und publiziert.“ Aber er sagt zu einem anderen Zeitpunkt im Interview: „Leider wird heutzutage zu sehr personalisiert und zu wenig die fachliche Leistung und Qualität von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrachtet…“

Prioritäten während der Pandemie

Während der Krisenzeit war für Wieler am wichtigsten, Menschenleben zu schützen: „Für mich hat es aus christlich-ethischer Sicht die höchste Priorität, Leben zu schützen. Deshalb stand zu Beginn der Pandemiebekämpfung die Eindämmung – das Containment – im Vordergrund. Wie genau diese aussieht, das muss vor Ort entschieden werden.“

Nun zwei Jahre später, weiß man, dass Kitas und Schulen nicht hätten schließen müssen. Wieler ordnet das so ein: „Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung. Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sondern es gab und gibt immer Alternativen. Der vorhandene Spielraum ist während der ganzen Pandemie nicht ausreichend mit der nötigen Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit betrachtet worden.“

Und er führt weiter aus: „Wir wussten anfangs nicht, in welchem Maß Kinder krank werden. Wir wussten nicht, ob Kinder Langzeitschäden haben werden. Wir mussten auch sie schützen. Noch mal: Wie man Gesundheitsschutz umsetzt, wie drastisch die Maßnahmen sind, welche anderen Aspekte – ökonomische, soziale oder psychologische – noch zu berücksichtigen sind, das ist Aufgabe der Politik und der Verantwortlichen vor Ort. Und es war immer klar, dass jede Maßnahme Nebenwirkungen hat.“

Notwendige Aufarbeitung

Nun sei es dringlich, Lehren zu ziehen, denn „als Wissenschaftler will ich wissen: Welche Maßnahmen waren adäquat, welche Kosten-Nutzen-Effekte gab es? Aber das muss fundiert geschehen, als saubere Analyse, denn wir müssen ja daraus für die Zukunft lernen.

Hier sind zunächst einmal alle Disziplinen getrennt gefordert. Wir biomedizinischen Wissenschaftler sollten prüfen, wie wir Daten gewonnen, analysiert, publiziert und kommuniziert haben. Wir haben doch wahnsinnig viel gelernt! Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele Deutsche auch sehr gerne meckern. Wir sollten auf das schauen, was wir aus dieser Krise gelernt haben. Denn es wird nicht die letzte gewesen sein. Weder für das RKI noch für die Wissenschaft oder die Politik.“

Gefragt nach eigenen Fehlern, räumt Wieler ein, dass er mehr Gespräche hätte führen sollen, „um diese komplexen Geschehnisse besser einzuordnen. Das habe ich zu wenig getan.“ Weil er überlastet gewesen ist. „Das war eine intensive Zeit. Dazu kam das Problem der explodierenden Fake-News. Wissenschaftsleugner gibt es immer schon, aber diese Intensität, gerade mit Blick auf die Impfstoffe, hat mich überrascht. Gegen Fehlinformationen muss man intensiver vorgehen, ihnen souverän und sachlich entgegentreten. Dafür fehlten in der Pandemie aber schlichtweg die Ressourcen.“

Zukünftige Ausrichtung des RKI

Es wird darüber nachgedacht, ob das RKI Wird weiterhin dem Ministerium unterstellt sein wird. Dafür gibt es sogar eine Arbeitsgruppe im Bundesgesundheitsministerium.

Wieler meint: „Unser Haus hat einen gesetzlichen Auftrag, in welchen Bereichen wir forschen. Mit welchen Methoden wir Erkenntnisse gewinnen und wie wir diese auswerten – diese Unabhängigkeit haben wir. Sollten wir institutionell unabhängig werden – so wie etwa ein Max-Planck-Institut –, würden wir unsere entscheidende Funktion verlieren, nämlich eine gesetzlich legitimierte Schnittstelle von Wissenschaft zu Politikberatung zu sein, die klassische Aufgabe eines Ressortforschungsinstituts. Die dreigliedrige Säulenstruktur des deutschen Wissenschaftssystems – universitäre, außeruniversitäre und Ressort-Forschung – mit den jeweiligen damit verbundenen Pflichten, Rechten und Verantwortungsbereichen sehe ich als Stärke in unserem Land. Die sollten wir nicht einfach aufgeben, weil es vielleicht gerade populär zu sein scheint. Wer so etwas fordert, hat für meine Begriffe das RKI nicht verstanden.“

Er freut sich nun, dass er mit 62 Jahren noch etwas Neues anfangen kann.

Das gesamte Interview können Sie in der ZEIT lesen — allerdings nur für ZEIT+ Abonnenten.

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