128. Deutscher Ärztetag: Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens


Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Reformen im Gesundheitswesen – die großen Herausforderungen in der Medizin waren die Leitthemen des Deutschen Ärztetags 2024.

Auf dem 128. Deutschen Ärztetag waren sich die Delegierten einig: Es muss vieles im Gesundheitswesen und bei der ärztlichen Versorgung angepackt werden. (Foto von Clay Banks auf Unsplash)

 

Während der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt am 7. Mai 2024 seine Eröffnungsrede hielt, protestierten vor der Rheingoldhalle am Veranstaltungsort Mainz 200 Ärztinnen und Ärzte gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Eine Momentaufnahme, die viel aussagt über den Zustand und die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens.

Von überbordender Bürokratie bis Brain-Drain

In seiner Eröffnungsrede für den Deutschen Ärztetag 2024 adressierte Reinhardt die Regierung: „Wir wissen, wie es tatsächlich in den Praxen und Krankenhäusern (…) aussieht, wie die Kolleginnen und Kollegen trotz überbordender Bürokratie, fehlendem Personal und unzureichenden Mitteln Tag für Tag versuchen, jedem Einzelnen gerecht zu werden.“ Für Reinhardt ist es unverständlich, dass es im Kanzleramt einen Chemie- und Autogipfel gibt, aber keinen Gesundheitsgipfel.

Er warnte vor der doppelten demografischen Herausforderung – nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch die Menschen, die das Gesundheitssystem tragen, werden älter: „Schon heute ist fast jeder vierte berufstätige Arzt über 60 Jahre alt.“ Eine Ruhestandswelle steht ziemlich sicher bevor: „Man kann von einem echten Brain Drain der sogenannten Baby-Boomer-Generation sprechen.“ Gleichzeitig steigt die Zahl ärztlichen Behandlungsfälle sowohl in den Krankenhäusern als auch ambulant.

Unverzichtbare Reformen

Er warnte ausdrücklich vor Zuteilungen und Quoten hinsichtlich der fachärztlichen Weiterbildung, wie sie kürzlich vom Sachverständigenrat Gesundheit der Bundesregierung empfohlen wurde. Zugleich sicherte er dem Rat volle Unterstützung bei Themen wie der weiteren Flexibilisierung der Präsenzpflicht in der vertragsärztlichen Versorgung, der Vermittlung digitaler Kompetenzen, telemedizinischen Angeboten, der Neuausrichtung der Notfallversorgung und der Stärkung der primärärztlichen Versorgung zu.

Reinhardt appellierte an Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, die verschleppte Reform der Gebührenordnung für Ärzte, die Reform des Medizinstudiums und die angekündigte Revolution im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) anzugehen sowie den Bürokratieabbau voranzutreiben.

Andere Forderungen in der Übersicht

  • Unabhängigkeit der ethischen Bewertung von klinischen Studien:

Im Rahmen der aktuellen parlamentarischen Beratungen für ein nationales Medizinforschungsgesetz (MFG) muss die Unabhängigkeit der ethischen Bewertung von klinischen Prüfungen erhalten und die hoch umstrittene Errichtung einer sogenannten Spezialisierten Ethik-Kommission gestoppt werden, so die Vorstellung der Delegierten.

Denn die im Entwurf eines Medizinforschungsgesetzes vorgesehene Errichtung einer Ethik-Kommission beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als dem Bundesministerium für Gesundheit nachgeordnete und weisungsgebundene staatliche Behörde stellt die Unabhängigkeit bei der ethischen Bewertung von Studienvorhaben grundlegend infrage, wird befürchtet.

Und weiter wird betont, dass die Unabhängigkeit einer Ethik-Kommission eine zentrale Anforderung gemäß der 1964 erstmals vom Weltärztebund verabschiedeten Deklaration von Helsinki ist, die international anerkannte ethische Standards für die Forschung am Menschen setzt.

Somit ist eine unabhängige ethische Bewertung von Forschungsvorhaben „ein zentraler Eckpfeiler des Probandenschutzes im Kontext von klinischen Prüfungen. Der Regelungsansatz sei umso bedenklicher, als diese Kommission gerade für die komplexen und damit inhärent auch riskanten Forschungsvorhaben an hoch vulnerablen Patientengruppen zuständig sein soll.“

  • Angemessene Arbeitsbedingungen und ein modernes Medizinstudium:

Die zahlreichen Proteste von Ärztinnen und Ärzten, medizinischen Fachangestellten und weiteren Gesundheitsfachberufen zeigen die tiefe Unzufriedenheit über die beruflichen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen. Vor diesem Hintergrund forderten die Delegierten Bund und Länder auf, berufliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Zeit für Zuwendung zulassen. Eine leistungsgerechte Bezahlung und verbesserte Strukturen mit weniger Bürokratie sind zudem grundlegend für die Sicherung der medizinischen Versorgung. Der von der Bundesregierung erarbeitete Gesetzentwurf für ein KHVVG bleibt jedoch in weiten Teilen hinter diesen Erwartungen zurück.


Auch die seit Jahren angekündigte Reform des Medizinstudiums muss endlich umgesetzt werden, denn aktive ärztliche Nachwuchsförderung ist die Grundvoraussetzungen für eine Fachkräftesicherung im Gesundheitswesen. In diesem Zusammenhang forderten die Abgeordneten des Deutschen Ärztetags 2024 auch, das praktisches Jahr im Medizinstudium angemessen zu vergüten. „Studierende müssen für ihren Lebensunterhalt sorgen können, was bei einer Vollzeittätigkeit im Praktischen Jahr ohne adäquate Aufwandsentschädigung nicht in zumutbarer Weise möglich ist“, heißt es in einem Beschluss des Ärzteparlaments.

  • Facharztpraxen und primärärztliche Versorgung:

Die Ärzteschaft lehnt die Forderung der Regierungskommission „für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ entschieden ab, das leistungsfähige und breit aufgestellte Netz von Facharztpraxen in Deutschland abzuschaffen. Einig waren sich die Abgeordneten aber darüber, dass Patientinnen und Patienten für die primäre Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung eine Arztpraxis verbindlich wählen sollten für mehr Koordination und bessere Orientierung im Gesundheitswesen.

Die primärärztliche Versorgung sollte durch eine Hausärztin beziehungsweise einen Hausarzt erfolgen, mit Ausnahme der gynäkologischen und augenärztlichen Versorgung, die weiterhin durch einen unmittelbaren Zugang zur fachärztlichen Versorgung realisiert werden sollte.

  • Digitalisierung: Kritik an der elektronischen Patientenakte

Die Digitalisierung durchdringt das Gesundheitswesen zunehmend und bietet große Chancen. Ab dem 15. Januar 2025 wird die elektronischen Patientenakte (ePA) automatisch für alle gesetzlich Versicherten eingeführt. Die Fachleute des Deutschen Ärztetags 2024 drängten auf Verbesserungen bei der Konzeption. Kritikpunkte waren fehlende Funktionen wie eine Volltextsuche, ein zentraler Virenscanner und ein digitaler Medikationsprozess. Es wurde zudem bemängelt, dass kritische Befunde nicht vor einem Arzt-Patient-Gespräch eingesehen werden können und die Protokollierung von Zugriffen auf die ePA fehlt.

  • Regulieren: Investorenbetriebene MVZ

Die mehrfach angekündigte gesetzliche Regulierung von investorenbetriebenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) müssen umgesetzt werden, um die Einflussnahme auf ärztliche Entscheidungen aus kommerziellen Gründen zu erschweren.

Dafür hat die Bundesärztekammer Anfang Januar eine eigene Position mit konkreten Formulierungsvorschlägen für entsprechende gesetzliche Regelungen veröffentlicht.

  • Unabhängigkeit ärztlicher Fortbildung:

Der 128. Deutsche Ärztetag in Mainz hat zudem einer grundlegend überarbeiteten (Muster-)Fortbildungsordnung (MFBO) für Ärztinnen und Ärzte zugestimmt. Damit sollen künftig strengere Regelungen für das Sponsoring von Fortbildungsveranstaltung gelten und Neutralität, Transparenz und Unabhängigkeit gewährleistet werden.

Fazit

Beim 128. Deutscher Ärztetag in Mainz im Mai 2024 ging es um das gesamte Gesundheitssystem – von der Ausbildung über den Alltag und die akuten Probleme in den Praxen und Krankenhäusern bis hin zur Krankenhausreform. Die 250 ärztlichen Abgeordneten waren sich einig darin, dass den großen Herausforderungen der nahen Zukunft mit großen Reformen begegnet werden muss.

 

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