
(Die Medizin der Zukunft trägt vielleicht keinen Kittel mehr, aber hoffentlich trotzdem ein Herz. (Foto von NIKLAS LINIGER auf Unsplash)
Wie viel Nähe brauchen wir noch und wie viel Distanz braucht die Medizin von morgen?
Liebe Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich vor, Sie haben einen Arzttermin und freuen sich schon darauf, in den nächsten Minuten in aller Ruhe durch die neuesten Ausgaben von Gala, Bunte oder Apotheken Umschau zu blättern mit einem Mix aus Promi-News und Fachartikeln über Krankheiten, die Sie hoffentlich nie haben werden.
Doch dann betreten Sie die Praxis und finden: nichts. Kein Empfang, keine Wartezimmerstühle, kein Desinfektionsgeruch. Stattdessen steht in der Mitte des Raums ein Terminal. Auf dem Bildschirm erscheint ein freundlich animiertes Gesicht. „Guten Tag, ich bin Dr. Hua. Was führt Sie zu mir?“
Ich tippe meine Symptome ein, lade Befunde hoch, beantworte Rückfragen. Dr. Hua nickt – oder besser: Das Pixelgesicht tut es und wenige Minuten später erscheint eine Diagnose samt Behandlungsplan. Kein Stethoskop, kein Händedruck, keine überlegende Miene. Alles glatt, präzise, effizient.
Zukunftsmedizin oder kalter Tech-Traum?
In Al-Ahsa in Saudi-Arabien ist diese Szene seit April Realität. Dort praktiziert nun ein Arzt, der keinen Kittel trägt, keinen Urlaub braucht – und auch nie krank wird: Dr. Hua ist eine Künstliche Intelligenz.
Einerseits klingt das verlockend, besonders im Vergleich zu meiner letzten Terminvereinbarung beim Hausarzt: dreimal anrufen, zweimal in der Warteschleife, schließlich ein Termin in vier Wochen. Dr. Hua ist sofort da. 24/7. Kein langes Warten.
Andererseits bleibt da dieses Bauchgefühl. Kann eine KI hören, wenn meine Stimme zittert? Spüren, dass mein „Mir geht’s schon besser.“ eigentlich eine Lüge ist? Medizin ist mehr als Datenpunkte. Manchmal liegt das Entscheidende im Unausgesprochenen.
Und wo stehen wir in Deutschland?
Während in Al-Ahsa schon Algorithmen arbeiten, diskutieren wir hierzulande, warum das E-Rezept nicht in allen Apotheken funktioniert. In ländlichen Regionen bedeutet „Arztbesuch“: lange Fahrt, kurzes Gespräch. Genau dort könnte KI helfen, nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung: für die Ersteinschätzung, das Monitoring chronischer Erkrankungen, die Dokumentation.
Ein Blick auf eine aktuelle Befragung von Deloitte zeigt: Die digitale Gesundheitsrealität bewegt sich. Aber langsam.
Vier Ergebnisse stechen heraus:
- Mehr Eigeninitiative durch KI : 25% der Bevölkerung nutzen bereits KI-Anwendungen im Gesundheitskontext – ein deutlicher Anstieg gegenüber 2024. Interessant: Vor allem Angebote aus dem zweiten Gesundheitsmarkt boomen. Und mit der Nutzung steigt auch die Bereitschaft, Gesundheitsdaten zu teilen: um satte +18 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr.
- E-Rezept & ePA: endlich Alltag, aber nicht ganz überzeugend. Das E-Rezept ist angekommen und wird überwiegend positiv bewertet. Auch die ehrgeizigen Ziele des BMG zur Widerspruchsquote bei der ePA scheinen realistisch. Trotzdem bleibt viel zu tun: Bekanntheit, wahrgenommene Mehrwerte und Vertrauen in die Datensicherheit sind ausbaufähig.
- Telemedizin und DiGA bleiben Sorgenkinder: Die Nutzung ist gering, der Bekanntheitsgrad dümpelt bei 40–50%, je nach Anwendung. Weder Telemedizin noch digitale Gesundheitsanwendungen haben es bisher geschafft, in der breiten Bevölkerung wirklich anzukommen.
- Vulnerable Gruppen bleiben zurück : Ältere Menschen und Menschen in ländlichen Regionen profitieren weiterhin zu wenig von Digitalisierungsmaßnahmen. Gerade sie, die besonders von Telemedizin profitieren könnten, kennen die Angebote oft nicht oder haben nicht die nötigen Digitalkompetenzen. Hier wird der digitale Fortschritt zur digitalen Barriere.
Und jetzt?
Wir stehen an einem Scheideweg. Die Wahl ist nicht „Mensch oder Maschine“, sondern: gar keine Versorgung oder eine digital unterstützte. Das heißt nicht, dass Dr. Hua überall Einzug halten soll. Aber es heißt, dass wir Technologie endlich strategisch und menschlich zugleich einsetzen müssen.
Die Bedienung digitaler Angebote muss so einfach sein wie eine Fernbedienung. Die Prozesse müssen vertrauenswürdig und nachvollziehbar sein. Und vor allem: Der Mensch darf nicht verschwinden.
KI in der Medizin? Ja, bitte. Aber nicht als Kostensparmodell, sondern als Werkzeug. Nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung. Mit klaren Leitplanken, transparenter Funktionsweise – und der Verpflichtung, dass am Ende immer ein Mensch die letzte Entscheidung trifft.
In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund, kritisch und offen für das, was kommt. Die Medizin der Zukunft trägt vielleicht keinen Kittel mehr, aber hoffentlich trotzdem ein Herz. Wir sehen uns an dieser Stelle in vier Wochen wieder, wenn Sie mögen.
Ihr Torsten Christann

Torsten Christann
Managing Partner Digital Oxygen
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