Konkrete Vorteile von KI: Wo steht Pharma?


Wir haben nachgefragt bei Friedrich von Bohlen, Molecular Health.

Für von Bohlen ist KI bereits in zwei zentralen Bereichen etabliert: Drug Discovery und regulatorische Prozesse. (Foto von Google DeepMind)

„Die Diskussion sollte sich darauf konzentrieren, welche konkreten Vorteile KI bringen kann und wird.“

Ist KI nicht schon längst in Forschung und Entwicklung angekommen?

Die beiden F&E Bereiche, in denen KI heute schon angekommen ist sind a) Drug Discovery und b) Regulatorische Prozesse. In Drug Discovery wird KI erfolgreich zur Findung und Modellierung neuer Arzneimittelkandidaten genutzt. In regulatorischen Prozessen automatisiert KI die Analyse und Erstellung von Dokumenten und die Einreichung von Anträgen für die behördliche Zulassung, was hilft, die Zeit bis zur Markteinführung zu verkürzen.

Warum muss über KI immer noch so sehr diskutiert werden?

KI steckt immer noch in den Kinderschuhen ihrer vielfältigen Anwendungsfelder und Möglichkeiten. Viele verstehen KI auch nicht wirklich, und vermutlich fast allen fehlt eine Vorstellungskraft, wie weit die Rolle der KI gehen kann und wird. Kurz: es herrschen Unwissen und Unsicherheit. Die Diskussion sollte sich daher darauf konzentrieren, welche konkreten Vorteile KI bringen kann und wird. Denn KI ist gekommen, um zu bleiben.

Noch anders gefragt: Sollten wir weniger über KI diskutieren und lieber mehr mit KI versuchen?

Ja, und genau das geschieht auch. Ich selber erlebe, wie KI sowohl privat und in unseren produktiven Abläufen und Projekten immer öfter genutzt wird. Sie erlaubt heute schon signifikante Effizienzvorteile und Erkenntnisgewinne. Dabei gibt es Limitationen und auch Fehler, die einem Anwender nicht unbedingt sofort klar werden. Adäquate Qualitätssicherung und Standards werden deshalb in Zukunft entscheidende Rollen zukommen.

Über welches Potenzial verfügt KI in der Pharmaindustrie?

KI wird Pharma R&D fundamental transformieren. KI wird die Entwicklung neuer Medikamente und Therapien schneller und erfolgreicher machen. Warum ist das relevant? 85% aller Arzneimittelkandidaten, die in die klinische Entwicklung kommen, scheitern. Deswegen kostet die Entwicklung eines neuen Arzneimittels arithmetisch 4 Mrd. US-Dollar. Ohne die hohen Ausfallraten wären es lediglich einige hundert Millionen USD. Das würde also erlauben, Arzneimittel viel günstiger entwickeln und anbieten zu können.

Welche Rolle wird KI darin spielen? Das Thema Drug Discovery hatte ich schon erwähnt. Wirklich teuer ist aber die klinische Entwicklung am Menschen. Hier kann KI helfen, die kausalen Ursachen von Erkrankungen zu verstehen, sogar auf Basis eines einzelnen Patienten. Damit können Studien viel präziser geplant und in Zukunft sogar auch ohne Patienten vorab simuliert werden. Wenn diese Simulationen erfolgreich sind, können dann mit viel weniger Patienten als heute die eigentlichen Studien durchgeführt werden. Das spart viel Zeit und Geld, da sich die Studienkosten vor allem an den Studiengrößen und der Studiendauer orientieren. 

Gleichzeitig erhöht KI die Erfolgsrate, und man wird verstehen, welche Patienten von einer neuen Therapie besonders gut profitieren – Stichworte ‚Biomarker‘ und ‚Präzisionsmedizin‘. Vermutlich wird man in Zukunft nur zwei statt heute drei Studienschritte benötigen. Im ersten Schritt wird die postulierte Dosis zur Vermeidung von Nebenwirkungen verifiziert, im zweiten die postulierte vorteilhafte Effektivität. Wenn die KI-generierten Annahmen stimmen – und sie werden immer besser stimmen – wird man beide Schritte konfirmatorisch mit wenigen Patienten schnell, günstig und erfolgreich durchführen können.

Und wie wird KI den Diagnostics-Bereich beeinflussen?

KI wird Diagnostik fundamental transformieren. Wenn wir umfassenden Zugang zu Patienten-Verlaufsdaten bekommen, die idealerweise in Patientenakten abgelegt sind. Dann lassen sich aus der Kombination phänotypischer Daten, Bilddaten, molekularer Daten, Labordaten und ggf. weiterer Daten wir Lifestyle präzise Diagnosen und hochindividuelle Behandlungsoptionen erstellen. 

Das wird die klassischen Leitlinien dynamisieren, weil man nicht mehr auf eine historische Patientengruppe schauen muss, die mit teilweise nicht mehr aktuellen Therapeutika behandelt wurde, sondern jeden Patienten sozusagen real-time individuell diagnostizieren und therapieren kann. Was im Übrigen auch für die Entwicklung neuer Medikamente ein Vorteil ist. Denn man kann dann ohne das heute notwendige Screening die für die Rekrutierung der am vielversprechendsten positiv auf ein neues Arzneimittel reagierenden Patienten anhand von Patientenakten identifizieren. Natürlich braucht das Regulierung und Zustimmung, aber wenn Patienten verstehen, weswegen eine neue Medikation genau für sie von Vorteil ist, werden die meisten dem nicht nur zustimmen, sondern das aktiv wollen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen, die für Sie augenöffnend gewesen sind?

Im wahrsten Sinne des Wortes sind es der aktuelle Star Wars Trailer, der komplett mit KI erstellt wurde sowie meine Fahrt in einem Waymo-Taxi in San Francisco, das komplett autonom fährt.

Auf der anderen Seite der Medaille gibt es KI-generierte Krankheitsmodelle, die nicht stimmen. Diese sogenannten KI Halluzinationen sind gefährlich, weil sie vom Laien nicht erkannt werden können. Auch deswegen die Notwendigkeit, dass KI mit engen Qualitätskontrollen und geeigneter Regulierung angewendet werden muss, vor allem dann, wenn es direkten Einfluss auf Behandlung, Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie muss oder kann KI in Zukunft eingesetzt werden, dass die Technologie wirkliche Synergien schaffen kann — also auch über eigene Unternehmens- und Wissenschaftsgrenzen hinweg?

Es braucht verschiedene Teilaspekte, die adressiert und synchronisiert werden müssen:

1. Datenverfügbarkeit: Unternehmen, Kliniken und Forschungseinrichtungen müssen Daten und Erkenntnisse teilen, um die Entwicklung von KI-Modellen zu beschleunigen und deren Genauigkeit zu verbessern. Open-Source-Projekte spielen dabei eine essentielle Rolle.

2. Datenqualität: KI ist am Ende so gut wie die Datensätze, auf denen sie trainiert wird und lernt. Je besser diese Daten sind, desto besser die Ergebnisse. Die Gewährleistung definierter Datenqualität ist conditio sine qua non im Gesundheitswesen.

3. Interdisziplinäre Teams: Es braucht Ärzte, Wissenschaftler, Entwickler und Anwendungsexperten, die Fragen richtig stellen und dann in Anwendungen umsetzen. Das führt zum nächsten Punkt:

4. Bildung und Weiterbildung: Im ärztlichen Curriculum ist heute noch keine KI Schulung verankert. Bildung und Weiterbildung sind aber entscheidend, um Verständnis für und Fähigkeiten im Umgang mit KI zu erwerben, um diese Technologien effektiv und unvoreingenommen zu nutzen.

5. Standardisierung, Zertifizierung, Qualitätssicherung: Die Entwicklung von Standards und Qualitätssicherung für KI-Systeme sind essentiell für übergreifende Integration und Kommunikation. Dies ist besonders in sicherheitskritischen Bereichen wie Gesundheit und Medizin, Finanzwesen, Mobilität wichtig.

Was denken Sie: Wo werden wir mit und durch KI in Pharma in ein paar Jahren sein?

Es ist eine Opportunität für Pharma- und Diagnostik-Unternehmen, hier schneller als der Wettbewerb zu agieren, um sich die Effektivitäts- und Effizienz-Vorteile zu sichern. Und diese Prozesse nicht nur adjunkt, sondern integrativ in den Unternehmen zu installieren. Eine ähnliche Revolution gab es zu Beginn der 80er Jahre, als die ‚biologics‘ (large molecules, damals vor allem Eiweisse) die traditionellen chemischen Arzneimittel (small molecules) ergänzten und teilweise ersetzten. 

Heute sind acht der zehn am besten verkauften Arzneimittel ‚biologics‘. Diese Entwicklung kam aus dem Silicon Valley und hat die Biotech-Industrie begründet, die heute der Innovationsmotor der pharmazeutischen Industrie ist. Die deutschen Pharma-Unternehmen haben diese Revolution damals verpasst: Hoechst gibt es nicht mehr, Knoll – einschließlich Humira, dem erfolgreichsten Arzneimittel aller Zeiten – wurde an Abbott verramscht, Bayer ist nicht mehr in den Top Ten. 

Was will ich sagen? Das ist eine große Chance für die deutsche pharmazeutische Industrie. Wenn jetzt schnell und konsequent gehandelt wird.

 

FvB Porträt.png

Friedrich von Bohlen

Geschäftsführer und Mitgründer Molecular Health

Die Fragen in der Übersicht:

  • Ist KI nicht schon längst in Forschung und Entwicklung angekommen?
  • Warum muss über KI immer noch so sehr diskutiert werden?
  • Noch anders gefragt: Sollten wir weniger über KI diskutieren und lieber mehr mit KI versuchen und dann darüber aufklären?
  • Über welches Potenzial verfügt KI in der Pharmaindustrie?
  • Und wie wird KI den Diagnostics-Bereich beeinflussen?
  • Können Sie konkrete Beispiele nennen, die für Sie augenöffnend gewesen sind?
  • Wie muss oder kann KI in Zukunft eingesetzt werden, dass die Technologie wirkliche Synergien schaffen kann —also auch über eigene Unternehmens- und Wissenschaftsgrenzen hinweg?
  • Was denken Sie: Wo werden wir mit und durch KI in Pharma in ein paar Jahren sein?
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