
Fakt ist: Die DiGA-Landschaft hat sich in kurzer Zeit beachtlich entwickelt. Von 24 DiGA Ende 2021 auf 68 zum Jahresende 2024, davon 59 aktiv im Verzeichnis. (Foto von Adrian Regeci auf Unsplash)
Denn beide beleuchten denselben Markt, beide stützen sich auf dieselbe Grundlage – und doch scheint sich ein völlig unterschiedliches Bild zu ergeben.
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
wie schön, dass Sie wieder durch meine Digital Health Notizen blättern, in denen ich auf aktuelle Entwicklungen im weiten Feld der „Digital Health“ blicke.
Und apropos „Blicken: Wenn zwei Menschen auf denselben Gegenstand blicken – und einer sagt „schwarz“, der andere „weiß“ –, dann lohnt sich meist ein zweiter Blick. So ging es mir bei der Lektüre der beiden aktuellen DiGA-Berichte: einer vom GKV-Spitzenverband, der andere vom SVDGV (Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung). Beide beleuchten denselben Markt, beide stützen sich auf dieselbe Grundlage – und doch scheint sich ein völlig unterschiedliches Bild zu ergeben.
Zwei Wahrheiten, viele Zahlen – ein System in Bewegung
Fakt ist: Die DiGA-Landschaft hat sich in kurzer Zeit beachtlich entwickelt. Von 24 DiGA Ende 2021 auf 68 zum Jahresende 2024, davon 59 aktiv im Verzeichnis. Das ist ein Wachstum von fast 200% in drei Jahren – und das in einem Gesundheitswesen, das sich sonst eher durch Beharrlichkeit als durch Agilität auszeichnet.
Über eine Million Verordnungen wurden inzwischen ausgestellt, davon laut GKV-SV rund 81% tatsächlich auch von Patient:innen aktiviert – ein Zeichen, dass DiGA eben nicht nur verschrieben, sondern auch genutzt werden. Allein im letzten Berichtszeitraum sind etwa 420.000 Aktivierungen erfolgt, ein Plus von rund 100% zum Vorjahr.
Finanziell nimmt der Sektor inzwischen ebenfalls spürbar Fahrt auf: Das jährliche Marktvolumen beträgt laut GKV-Daten inzwischen rund 110 Mio. Euro und somit ein Plus von 72% im Vergleich zum Vorjahr. Seit Einführung des DiGA-Systems wurden insgesamt etwa 234 Mio. Euro an Leistungsausgaben durch die GKV erfasst – ein beachtliches Volumen in einen Versorgungssektor, der erst seit vier Jahren existiert.
Auch inhaltlich zeigen sich klare Schwerpunkte: Der größte Anteil der Anwendungen entfällt auf psychische Erkrankungen, gefolgt von Stoffwechsel- und muskuloskelettalen Erkrankungen. Auffällig: Nur eine einzige DiGA (Oviva Direkt) ist für fast 28% aller Code-Aktivierungen verantwortlich – ein starker Indikator für das Potenzial gezielter Anwendungen in großen Indikationsfeldern.
Und auch die Nutzerschaft zeichnet ein klares Bild: durchschnittlich 47 Jahre alt, die höchste Inanspruchnahme liegt in der Altersgruppe zwischen 55 und 60 Jahren. 73% der Nutzer:innen sind weiblich – Männer, Jüngere und Ältere sind bislang deutlich seltener vertreten.
Rund 20% der Verordnungen sind bislang sogenannte Folgeverschreibungen. Ein Hinweis darauf, dass viele DiGAs (noch) nicht langfristig oder wiederholt genutzt werden. Ob das an der Wirksamkeit, der Nutzerfreundlichkeit oder strukturellen Hürden liegt, bleibt offen – aber es zeigt: Die Integration in die Regelversorgung ist noch nicht abgeschlossen.
Die GKV sagt: teuer, dünn belegt, noch nicht integriert
Der Bericht des GKV-Spitzenverbands liest sich deutlich kritischer. Der Tenor: Viele DiGAs kosten viel, leisten aber wenig. Nur 18% der Anwendungen konnten bereits bei Aufnahme ins Verzeichnis einen positiven Versorgungseffekt nachweisen. Die überwiegende Mehrheit – 56 Anwendungen – wurde zunächst nur zur Erprobung aufgenommen.
Und der Erfolg? Laut GKV-SV durchwachsen. Zum Stichtag befanden sich 21 DiGA noch in laufender Erprobung. Von den übrigen 35 wurden neun vollständig gestrichen, bei weiteren sieben nahm das BfArM Teilstreichungen vor – weil der Nutzen nicht überzeugend nachgewiesen werden konnte. Heißt: Nur etwa jede zweite Erprobungs-DiGA schafft es, ihre Versprechen vollumfänglich einzulösen.
Hinzu kommen wirtschaftliche Bedenken: Die Herstellerpreise lagen 2024 bei durchschnittlich 580 Euro, der höchste Preis sogar bei über 2.000 Euro. Die verhandelten Preise hingegen liegen bei durchschnittlich 226 Euro pro Quartal. Eine Differenz, die der GKV-Spitzenverband als „Anschubfinanzierung ohne Gegenwert“ bezeichnet.
Insgesamt beläuft sich diese inzwischen auf rund 96 Millionen Euro. Davon entfallen 41 Mio. Euro auf das erste Jahr, in dem der Herstellerpreis frei festgelegt werden kann und die GKV diesen vollständig trägt. Weitere 55 Mio. Euro „Vorfinanzierung“ entfallen auf das zweite Jahr, da viele DiGA länger in der Erprobung bleiben. Zwar besteht grundsätzlich eine Rückzahlungspflicht, doch bei Insolvenzen, wie sie bereits in sieben Fällen von DiGA-Herstellern angemeldet wurden, fehlt diese Garantie. Die GKV stellt damit über zwei Jahre hinweg erhebliche Liquidität zur Verfügung – mit hohem wirtschaftlichem Risiko und ohne Rückzahlungsgarantie.
Auch bei der Evidenz sieht der Bericht Defizite: Viele Studien sind methodisch schwach. Sie nutzen retrospektive Designs, verzichten auf Kontrollgruppen und blinde Auswertungen – und basieren häufig auf Selbstberichten der Nutzer:innen, also subjektiven Einschätzungen zu Symptomen, Stimmung oder Verhalten. Objektive Messgrößen fehlen häufig, was die Aussagekraft erheblich einschränkt.
Besonders kritisch bewertet der GKV-Spitzenverband jene DiGA, die gestrichen wurden, ohne einen Nutzen nachzuweisen: Knapp vier Mio. Euro wurden allein im ersten Jahr dafür aufgewendet, ohne Rückerstattungspflicht und ohne belegten Versorgungseffekt. Das widerspricht aus Sicht der GKV dem Grundprinzip evidenzbasierter Medizin – und belastet das Solidarsystem unnötig.
Der SVDGV sagt: jung, wachsend, lernend
Ganz anders der Blickwinkel im SVDGV-Report. Wo der GKV-Spitzenverband auf Risiken verweist, sieht der SVDGV ein System in Entwicklung – mit Lernkurven, aber auch mit klar erkennbaren Fortschritten. Die hohe Zahl an Probeaufnahmen wird als Merkmal eines lernenden Systems gedeutet.
Über zwei Drittel der auf Probe aufgenommenen DiGA haben den Sprung zur dauerhaften Listung geschafft: mittlerweile mit Studien-Designs, die dem Niveau der Medikamenten-Zulassung in nichts nachstehen. Das zeigt: Das Verfahren funktioniert, wenn man Innovation Raum gibt.
Positiv bewertet der SVDGV auch die zunehmende Verankerung von DiGA als „drittem Versorgungssektor“ neben stationär und ambulant. Fast jede fünfte DiGA wird wieder verordnet – ein Zeichen von therapeutischem Vertrauen und nachhaltigem Nutzen.
Wichtige regulatorische Fortschritte wie die Integration der DiGA in die ePA, ein verpflichtender Erfolgsnachweis (AbEM) ab 2026 oder die Möglichkeit für Risiko-Klasse IIb-Produkte zeigen: DiGA sind kein Spielzeug mehr, sondern Teil des Gesundheitssystems. Der Verband fordert aber auch: weniger Bürokratie, mehr digitale Prozesse – und vor allem ein Ende des „analogen Freischaltcodes“, der den Zugang nach wie vor unnötig erschwert.
Mein Fazit: irgendwo zwischen App-Store-Romantik und Evidenzpflicht
DiGA sind weder die alleinige Zukunft der Medizin noch ihr Untergang. Sie sind ein Versuch, Versorgung ins Digitale zu bringen – auch vor dem Hintergrund, dass wir mit immer weniger Fachkräften immer mehr Patient:innen versorgen müssen. Genau hier liegt ihr struktureller Wert: Nicht als Ersatz für menschliche Zuwendung, aber als Möglichkeit, Prozesse zu entlasten, Zugänge zu erleichtern und Ressourcen gezielter einzusetzen.
Was mich momentan stört: Die allzu schnelle Einordnung in „funktioniert“ oder „funktioniert nicht“. Denn so einfach ist es eben nicht. Was wir stattdessen brauchen, ist ein differenzierter Blick:
- Ja, es braucht stärkere Evidenz.
- Ja, nicht jede App gehört ins Verzeichnis.
- Aber auch: Ja, Innovation braucht Spielraum – und Zeit, um Wirkung zu zeigen.
Und ich? Ich bleibe neugierig. Ausprobiert habe ich tatsächlich schon einige DiGA, einfach aus Interesse. Nicht aus reiner Technikbegeisterung, sondern aus dem ehrlichen Wunsch heraus zu verstehen, wie Versorgung auch anders gehen kann. Besser, zugänglicher, digitaler – dort, wo es passt.
Was ich mir wünsche? Dass wir Innovation nicht danach beurteilen, wie fehlerfrei sie startet, sondern wie viel sie zu lernen bereit ist. DiGA sind kein Ersatz für Ärztinnen und Ärzte, kein Wundermittel. Aber sie sind ein Schritt – vielleicht kein perfekter, aber ein notwendiger.
Und wenn meine Smartwatch demnächst wieder vibriert, dann denke ich nicht nur an meinen Schrittzähler. Sondern daran, dass Bewegung manchmal auch schon im Kopf beginnt. Nicht alles ist schwarz oder weiß. Aber genau dazwischen wird’s oft spannend.
Ihr Torsten Christann
Seine letzte Kolumne Gesundheitswesen: Einzug der Extended Reality finden Sie hier.

Torsten Christann
Managing Partner Digital Oxygen
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