
XR ist heute mehr als eine technologische Spielerei für Technikfans. Es bietet neue Möglichkeiten, Versorgung anders zu denken und anders zu gestalten – näher am Menschen, alltagsnaher, manchmal sogar spielerischer. (Foto von Adrià García Sarceda auf Unsplash)
Zwischen Welten: Wie Extended Reality Reha und Psychotherapie verändert
Liebe Leserinnen und Leser,
schön, dass Sie wieder zusammen mit mir auf meine Digital Health Notizen schauen, in denen ich auf aktuelle Entwicklungen im weiten Feld der „Digital Health“ blicke. Heute bewegen wir uns dazu teilweise im virtuellen Raum, aber lesen Sie selbst:
Stellen Sie sich vor: Sie betreten einen Therapieraum – nüchtern, weiß, funktional. Und dann setzen Sie eine Brille auf. Plötzlich stehen Sie nicht mehr zwischen Gymnastikmatte und Sprossenwand, sondern mitten im Wald. Oder auf einem belebten Markt. Oder in Ihrer eigenen Küche. Was bis vor Kurzem noch nach Science-Fiction klang, ist inzwischen auf dem Weg, Wirklichkeit zu werden: Extended Reality (XR), also Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR), hält zunehmend Einzug ins Gesundheitswesen – vor allem in der Rehabilitation und in der psychischen Gesundheitsversorgung.
Neue Technologien wie XR feiern oft auf großen Messen wie der CES in Las Vegas ihr Debüt – dort, wo Zukunftstechnologien greifbar werden und man sich fragt: Kommt das wirklich bald in den Alltag? Die Antwort ist: In vielen Bereichen ist es längst so weit. Denn XR ist heute mehr als eine technologische Spielerei für Technikfans. Es bietet neue Möglichkeiten, Versorgung anders zu denken und anders zu gestalten: näher am Menschen, alltagsnaher, manchmal sogar spielerischer.
Von Reha-Ödnis zu virtueller Aktivität
Reha-Alltag kann herausfordernd sein: Übungen wiederholen sich, und Fortschritte zeigen sich oft nur langsam. Dabei bleibt die Motivation nicht selten auf der Strecke. Genau hier kommt XR ins Spiel. Statt ein und denselben Bewegungsablauf im Therapieraum zu wiederholen, können Patient:innen mithilfe von VR alltägliche Szenarien durchspielen – virtuell, aber alltagsnah. Gemüse schneiden, im Supermarkt einkaufen oder einen Bus besteigen: All das lässt sich gefahrlos üben – so oft, wie es eben braucht. Und ganz nebenbei stärkt das nicht nur die Beweglichkeit, sondern auch das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. Genau dieses Vertrauen ist im Reha-Prozess oft genauso wichtig wie Muskelkraft.
Ein konkretes Beispiel ist das Projekt VITALab.mobile des Fraunhofer IGD. Es bringt VR-Rehabilitation direkt ins Wohnzimmer mit spielerischen Bewegungsübungen, Sturzprävention und Echtzeit-Feedback. Das System läuft auf handelsüblichen Geräten und eignet sich besonders für Regionen mit eingeschränktem Zugang zu Physiotherapie.
Bemerkenswert ist: Diese Anwendungen sind nicht nur technologisch raffiniert, sondern sie bringen auch frischen Wind in eine oft als mühsam empfundene Reha.
Gleichzeitig gilt aber: XR kann und soll persönliche Betreuung nicht vollständig ersetzen, bietet jedoch in bestimmten Kontexten eine vielversprechende Ergänzung zu bestehenden Reha-Angeboten.
Psychische Gesundheit in neuen Dimensionen
Noch spannender wird es im Bereich der Psychotherapie. Besonders bei Angststörungen, Phobien und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) zeigt XR enormes Potenzial. Die Methode nennt sich Virtual Reality Exposure Therapy (VRET) und sie verfolgt im Kern dasselbe Prinzip wie die klassische Konfrontationstherapie: Patient:innen setzen sich angstauslösenden Reizen aus. Der Unterschied? Das Ganze findet in einer virtuellen Umgebung statt: kontrolliert, sicher und dennoch erstaunlich wirkungsvoll.
Die Charité in Berlin testet derzeit sogar VR-basierte Therapien bei Depressionen. Mit einer VR-Brille tauchen Betroffene in positive Naturumgebungen ein, kombiniert mit Achtsamkeitsübungen. Erste Studien zeigen, dass dies nicht nur entspannend wirkt, sondern eben auch Symptome lindern kann.
Doch so überzeugend diese virtuellen Szenarien sein mögen, sie bleiben eine Simulation. Nicht jede:r findet sich in der künstlichen Umgebung gut zurecht, und für manche können die Reize – je nach Inhalt und Intensität – sogar überfordernd wirken. Hinzu kommt: Der Sprung zurück in den realen Alltag gelingt nicht immer nahtlos. Denn das, was virtuell machbar scheint, stellt in der tatsächlichen Welt mitunter deutlich höhere Hürden.
Empathie durch Perspektivwechsel
XR hat aber noch einen weiteren, oft unterschätzten Nutzen: Es kann Empathie fördern, etwa in der Ausbildung von Pflegekräften oder Mediziner:innen. Projekte wie VR4Care der Hochschule Düsseldorf ermöglichen es, die Perspektive von Patient:innen einzunehmen. Wie fühlt sich ein Delirium an? Wie eine paranoide Episode? Durch immersive Erfahrungen wird Theorie plötzlich greifbar – und Verständnis zur neuen Basis von Fürsorge. Ein faszinierender Ansatz, aber auch ein sensibles Terrain. Denn so eindrücklich virtuelle Erlebnisse auch sein mögen: Können sie wirklich vermitteln, was ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung durchlebt? Oder bleibt es am Ende doch bei einer Annäherung – einer Perspektive, die zum Nachdenken anregt, aber auch zur Vereinfachung verleiten kann?
Ob XR am Ende tatsächlich ein neues Kapitel der Empathie im Gesundheitswesen aufschlägt? Das wird uns die Zukunft zeigen.
Was ist mit Datenschutz, Ethik und Kosten?
Natürlich: So viel Potenzial XR bietet, so viele Fragen sind noch offen. Wer zahlt das? Wie sieht es mit Datenschutz aus, wenn Bewegungs- oder Verhaltensdaten gesammelt werden? Welche Standards braucht es, um therapeutische Qualität sicherzustellen? Und wie lässt sich verhindern, dass immersive Erlebnisse überfordern – gerade bei vulnerablen Patient:innengruppen?
Es braucht klare Leitlinien, ethische Rahmenbedingungen und – ganz wichtig – eine Finanzierung, die auch kleinen Einrichtungen und ländlichen Regionen den Zugang ermöglicht. XR darf kein exklusives Luxusangebot bleiben, sondern muss Teil einer gerechten Gesundheitsversorgung werden.
Realität mit Erweiterung – nicht mit Ersatz
Viele Projekte, etwa Healthy Reality oder VReha, zeigen: Forschung und Praxis arbeiten bereits intensiv daran, XR sinnvoll und evidenzbasiert in die Gesundheitsversorgung zu integrieren. Und es gibt erste Studien, die belegen, dass XR nicht nur wirkt, sondern auch Therapietreue und Motivation steigert.
Dennoch ist XR kein Allheilmittel und es wird nicht alle Versorgungsprobleme lösen. Es ersetzt keine menschliche Zuwendung, keine Gespräche, keine langfristige Begleitung. Vielleicht kann es in bestimmten Fällen ergänzen, Brücken bauen oder neue Impulse geben, idealerweise immer in Kombination oder als Ergänzung zur menschlichen Interaktion in der Therapie.
XR ist also schon heute mehr als ein technisches Spielzeug. Es ist ein Werkzeug mit großem Wirkungspotenzial: für die motorische Reha, für die psychische Gesundheit, für die Empathie im Gesundheitsberuf. Natürlich wird es nicht alle Versorgungsprobleme lösen. Aber es kann helfen, Lücken zu schließen. Und manchmal ist genau das der entscheidende Unterschied.
Ich für meinen Teil nehme aus der Recherche vor allem eines mit: Es lohnt sich, öfters mal die Perspektive zu wechseln – sei es mit einer VR-Brille oder durch neue Ideen und mutige Ansätze.
Bis zum nächsten Mal – und bleiben Sie real. Oder eben: extended real.
Ihr Torsten Christann

Torsten Christann
Managing Partner bei Digital Oxygen
Andere Kolumnen finden Sie hier, z. B.: Die CES zeigt, was im Bereich Digitalisierung möglich ist.
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