
Dr. Anna Bauer-Mehren findet: „Da es keinen allgemeingültigen Ansatz für den Umgang mit KI gibt, ist ein kontinuierlicher Prozess der Offenheit, Neugierde und Flexibilität unerlässlich, in dem wir unseren Weg gemeinsam gestalten.“ (Foto von Pavel Kalenik auf Unsplash)
KI kann als eine Art „Co-Pilot“ fungieren, der dazu beiträgt, die Effizienz interner Prozesse zu steigern.
Ist KI nicht schon längst in Forschung und Entwicklung angekommen?
Ja, KI ist bereits ein fester Bestandteil der Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen, insbesondere in der Pharma- und Biotech-Industrie. Technologien wie maschinelles Lernen sind in vielen Produkten, Dienstleistungen und Prozessen von Roche integriert und gehören zum Standardrepertoire für Analyse und Erkenntnisgewinnung. Zudem beschleunigt die Integration von KI-Technologien wie Generativer KI die Entwicklung und ermöglicht es, Patienten schneller und besser zu versorgen.
Warum muss über KI immer noch so sehr diskutiert werden?
Die Notwendigkeit einer fortlaufenden Diskussion über Künstliche Intelligenz ergibt sich aus der Dynamik des technologischen Fortschritts und den spezifischen Anforderungen des Gesundheitswesens. Die Geschwindigkeit, mit der sich Technologien entwickeln, erfordert von Organisationen eine ständige Anpassung und Evolution. Da es keinen allgemeingültigen Ansatz für den Umgang mit KI gibt, ist ein kontinuierlicher Prozess der Offenheit, Neugierde und Flexibilität unerlässlich, in dem wir unseren Weg gemeinsam gestalten.
Gleichzeitig ist es im sich schnell wandelnden Gesundheitswesen von entscheidender Bedeutung, Regeln und Richtlinien zu etablieren, die sowohl Innovationen fördern als auch die Sicherheit, Fairness, Ethik und Transparenz von Versorgung und Diagnosen gewährleisten, und zwar so, dass sie auch für Laien verständlich sind. Aus diesen Gründen ist eine ständige Auseinandersetzung mit den ethischen und praktischen Implikationen von KI unerlässlich.
Noch anders gefragt: Sollten wir weniger über KI diskutieren und lieber mehr mit KI versuchen?
Die Frage, ob wir weniger über KI diskutieren und mehr mit ihr experimentieren sollten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es bedarf beides:
Die rasante Entwicklung generativer KI eröffnet zwar neue Möglichkeiten und macht Lösungen zugänglich, die früher aufwendige Entwicklungsarbeit erforderten. Dies spricht für einen verstärkten Fokus auf die praktische Anwendung von KI, um ihr Potenzial schnell zu nutzen. Strategien werden entwickelt, um KI in verschiedenen Bereichen einzusetzen und so Innovationen voranzutreiben.
Gleichzeitig ist es aber unerlässlich, einen Rahmen für den verantwortungsvollen Umgang mit KI zu schaffen. Der Aufbau von Kompetenzzentren, in denen Experten zusammenarbeiten, um Best Practices zu entwickeln und neue Ideen zu erforschen, ist entscheidend. Nur so kann sichergestellt werden, dass KI im Einklang mit ethischen Grundsätzen eingesetzt wird und den größtmöglichen Nutzen bringt.
Über welches Potenzial verfügt KI in der Pharmaindustrie?
Künstliche Intelligenz birgt in der Pharmaindustrie ein erhebliches und vielschichtiges Potenzial. So kann KI beispielsweise Forschung und Entwicklung optimieren und beschleunigen, eine schnellere und effizientere Produktion ermöglichen sowie die Kundenerfahrung verbessern. Darüber hinaus ist KI in der Lage, schnellere und genauere Tests und klinische Entscheidungshilfen für Fachkräfte im Gesundheitswesen bereitzustellen, was letztendlich zu einer besseren, personalisierten Gesundheitsversorgung für Patienten führt.
Über diese direkten Anwendungen hinaus ermöglicht KI die Analyse und Verarbeitung umfangreicher Datensätze mit einer Geschwindigkeit und in einem Umfang, die für den Menschen unmöglich zu erreichen sind, und zwar bei gleichzeitig hoher Genauigkeit. KI kann als eine Art „Co-Pilot“ fungieren, der dazu beiträgt, die Effizienz interner Prozesse zu steigern. Dies führt dazu, dass Mitarbeiter mehr Zeit und Aufmerksamkeit für Aufgaben mit hohem Stellenwert haben, die Fachwissen, Kreativität und fundierte Entscheidungen erfordern. Auf diese Weise trägt KI dazu bei, die Produktivität eines Unternehmens nicht nur in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer Hinsicht zu steigern.
Und wie wird KI den Diagnostics-Bereich beeinflussen?
Künstliche Intelligenz beeinflusst den Diagnostikbereich maßgeblich, indem sie neue Möglichkeiten in der Krankheitserkennung und -behandlung eröffnet. So werden KI-basierte Algorithmen eingesetzt, um die klinische Entscheidungsfindung von Ärzten zu unterstützen und die Identifizierung, den Nachweis und die Behandlung von Krankheiten zu verbessern. Diese Algorithmen werden beispielsweise in der „Navify Algorithm Suite“ kommerzialisiert und pilotiert, um die Früherkennung von Krankheiten wie Darmkrebs zu ermöglichen. Darüber hinaus wird eng mit Laboren weltweit zusammengearbeitet, um klinisch validierte Algorithmen für die Frühdiagnose und -erkennung von Krankheiten anzubieten. KI hat also das Potenzial, die Genauigkeit und Geschwindigkeit von Diagnosen zu verbessern und so die Patientenversorgung zu optimieren.
Können Sie konkrete Beispiele nennen, die für Sie augenöffnend gewesen sind?
Künstliche Intelligenz erweist sich in der Pharmaindustrie als eine Technologie von bahnbrechender Tragweite, was sich in mehreren augenöffnenden Beispielen zeigt. So revolutioniert KI die Entwicklung personalisierter Krebsbehandlungen, wie etwa bei der mRNA-Krebsvakzine, die Genentech in Zusammenarbeit mit BioNTech entwickelt. Durch die Analyse der einzigartigen Mutationen in den Tumoren einzelner Patienten ermöglicht KI die gezielte Auswahl von Mutationen, die eine Immunantwort auslösen, und ebnet so den Weg für individualisierte Therapien.
Ein weiteres Beispiel für das transformative Potenzial von KI liegt in der Optimierung von Produktionsprozessen. Der Einsatz von KI zur Vorhersage und Verbesserung der Ausbeute und des Titers von Medikamenten sowie zur Modellierung kritischer Qualitätsparameter hat zu deutlichen Effizienzsteigerungen und einer Reduzierung von Produktionsrisiken geführt.
Mit „lab in a Loop“ haben wir ein weiteres Beispiel. „Lab in the Loop“ bezieht sich auf die Integration von Labor-Experimenten mit KI-Modellen. Es handelt sich um einen iterativen Prozess, bei dem experimentelle Daten verwendet werden, um ein Modell zu trainieren, und das Modell dann neue Experimente vorschlägt. Dieser iterative Zyklus verbessert sowohl die Genauigkeit des Modells als auch unser Verständnis des untersuchten biologischen Systems. Wir benutzen dies in Pharma immer früher Forschung und Entwicklung, zum Beispiel um schneller bessere Moleküle zu entwickeln.
Wie muss oder kann KI in Zukunft eingesetzt werden, dass die Technologie wirkliche Synergien schaffen kann — also auch über eigene Unternehmens- und Wissenschaftsgrenzen hinweg?
Um das volle Potenzial von Künstlicher Intelligenz auszuschöpfen und echte Synergien zu schaffen, ist es entscheidend, den Datenaustausch und die Zusammenarbeit über die Grenzen einzelner Unternehmen und Forschungseinrichtungen hinaus zu fördern. Ein Beispiel dafür ist die Kooperation von Roche mit der Michael J. Fox Foundation für die Parkinson-Forschung, die zeigt, wie der gemeinsame Umgang mit Daten die Entwicklung von Medikamenten revolutionieren kann.
In dieser Zusammenarbeit wird ein neuer Standard gesetzt, indem Patienten Zugang zu einer innovativen digitalen Biomarker-Plattform für Smartphones und Smartwatches erhalten. Diese Technologie ermöglicht die Fernüberwachung des Krankheitsverlaufs und des Ansprechens auf die Behandlung. Die Plattform findet Anwendung in der Parkinson's Progression Markers Initiative (PPMI), einer wegweisenden Beobachtungsstudie der Stiftung, die sich der Identifizierung von Biomarkern für diese neurologische Erkrankung widmet.
Zusätzlich arbeiten wir mit dem Alan Turing Institute zusammen, um fortschrittliche Analysemethoden für Gesundheitsdaten zu entwickeln. Ziel dieser Partnerschaft ist es, neue Erkenntnisse zu gewinnen und ein tieferes Verständnis für die Vielfalt von Krankheiten und den unterschiedlichen Behandlungserfolgen bei Patienten zu entwickeln.
Wo werden wir mit und durch KI in Pharma in ein paar Jahren sein?
In den kommenden Jahren wird KI voraussichtlich eine noch größere Rolle in der Pharma- und Biotech-Industrie spielen. Wir stehen an einem Wendepunkt im Gesundheitswesen, an dem der Einsatz von KI die Entwicklung lebensverändernder Behandlungen beschleunigt. Die Fähigkeit von KI, verschiedene Datentypen gleichzeitig zu analysieren, wird zu einem tieferen Verständnis von Krankheiten führen und die Entwicklung von Therapien revolutionieren.
Konkret wird KI die gesamte pharmazeutische Wertschöpfungskette durchdringen. Wir können erwarten, dass KI die Lieferketten optimiert, die Verteilung von Medikamenten beschleunigt und gleichzeitig sicherer und nachhaltiger gestaltet. Auch die Weiterbildung von Mitarbeitern wird durch KI unterstützt, indem der Wissensaustausch verbessert und Silos aufgebrochen werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KI in der Pharmaindustrie in wenigen Jahren nicht mehr wegzudenken sein wird. Sie wird die Art und Weise, wie Medikamente entdeckt, entwickelt, hergestellt und vertrieben werden, grundlegend verändern und zu einer effizienteren, präziseren und patientenorientierteren Gesundheitsversorgung beitragen.

Dr. Anna Bauer-Mehren
Head Integrated Clinical Analytics Data, Analytics and Research, Roche Information Solutions
KI macht Medizin menschlicher: Wo steht Pharma? Nachgefragt bei Prof. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen, Co-Founder 10xD.
Konkrete Vorteile von KI: Wo steht Pharma?Nachgefragt bei Friedrich von Bohlen, Molecular Health.
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