Wearables: Der Pharma-Schatz am Handgelenk
Torsten Christann gibt Ihnen was zum Lesen zum Thema Digital Health. (Foto von Marissa Daeger auf Unsplash)
Über die (Daten-)Schätze der Wearables.
Liebe Leserinnen und liebe Leser des PM—Report,
harr, beim Klabautermann! Verzeihung. Zuerst natürlich einmal: Schön, dass Sie heute wieder an Bord sind, wenn wir uns gemeinsam in die raue See meiner Digital Health Notizen stürzen. Stammleser:innen werden mir den albernen Einstieg verzeihen – die Bundesliga ist in vollem Gange und unser Bundeskanzler trägt Augenklappe: eine Piraten-Referenz mitten auf dem Elfmeter-Punkt. Um mich aber zunächst von jedem Verdacht der Schadenfreude freizumachen, wünsche ich unserem Bundeskanzler natürlich erst einmal eine rasche Genesung. Doch um auch Sie, liebe Leser:innen, gar nicht erst in die Nähe irgendeiner Häme kommen zu lassen: Denken Sie daran, das hätte Ihnen auch passieren können.
Wie das? Lassen Sie mich dazu einen Schritt zurück machen – und einen Blick auf die Uhr werfen: Es ist gerade 21:37 und mit dieser Kolumne klingt ein langer Tag langsam aus:
Angefangen hat er gegen sechs Uhr, weil dann laut meiner Apple „Sleep“ App siebeneinhalb Stunden erholsamen Schlafes vergangen sind. Ein Stündchen länger wäre schön gewesen, aber meine Uhr hat bestimmt recht. Von der neu gewonnenen Wachzeit gehen allerdings unmittelbar 7 Sekunden wieder ab, denn im Bad werde ich mit einem Klopfen am Handgelenk und einem Countdown in Seifenblasen-Form dazu ermutigt, mir auch wirklich 20 volle Sekunden die Hände zu waschen. Ja, stimmt schon – und am Ende ist ja auch ein blubberndes „Gut gemacht“ drin.
Der Vormittag ist vollgepackt mit Meetings – zwar alle geplant, aber durchaus nicht alle erwartungsgemäß, eines davon offenbar aufwühlender als gedacht: Noch bevor ich überhaupt zu einem tiefen Durchatmen komme, warnen mich drei schneller Klopfer am Handgelenk nämlich vor einer „Hohen Herzfrequenz“ – gut zu wissen.
Das Durchatmen habe ich natürlich trotzdem nicht vergessen, denn gerade noch rechtzeitig wurde ich nach dem Mittagessen von der „Atem“-App meiner Smart Watch auch hierauf hingewiesen – ich habe Folge geleistet und mich fachgerecht durch den Prozess begleiten lassen. Nachmittags habe ich mich gefühlt kaum gesetzt, da stehe ich schon wieder – ebenfalls auf Anraten meines Digitalschmucks. Ich gehorche, um mein „Stehziel zu erreichen“.
Sie sehen: Wearables und ich, das ist ein eher unterwürfiges Verhältnis: Kaum versieht man sich, ist man am Stehen, Trinken oder eben: Joggen – und dann ist es eigentlich nur noch ein flüchtig-abgelenkter Blick auf die Smartwatch bis zur Augenklappe.
Doch um die (vermeintlichen) Gesundheits-Gefahren durch Wearables soll es heute nun wirklich nicht gehen – ganz im Gegenteil. Sicher, da ist zum einen der unmittelbare (potenzielle) Effekt gesteigerter Aktivität durch Fitnesstracker, Smart Watches und Coaching Apps, oder auf einer anderen Ebene dann gar der einer gesteigerten Therapie-Adhärenz durch digitale Unterstützung in Form von Wearables.
Was aber viel, viel interessanter ist: Wenn ich des Abends im Bett die „Health“ App meines iPhones öffne, zieht mein gesamter Tag noch einmal an mir vorbei: Der erste Lidschlag nach dem Aufwachen, wie gut ich das mit dem Händewaschen gemacht habe. Mein Puls. All die Schritte ins Büro, zum Mittagessen, zurück und wieder nach Hause. Wie viel und gut ich geatmet habe. Meine Stehstunden. Für meinen Biografen sicherlich etwas detailverloren, aber: Gesundheitsdaten vom Feinsten, personalisiert, in Echtzeit erhoben und vor allem mit viel wertvollem Kontext und im zeitlichen Verlauf. Wie häufig bin ich sportlich aktiv? Und zu welchen Zeiten? Was sagen Sauerstoffsättigung und Puls über meine Kardiofitness?
Aber eben auch: Wie hat sich mein Verhalten, wie haben sich meine Vitalwerte verändert? Und nicht zu vergessen: In meinem Fall sprechen wir hier von Millionen selbst gesammelter Datensätze – von einer einzigen Smart Watch. Schon bald werden Features wie „Mood Tracking“ verbreitet sein, seit Langem gibt es Medikations- und Zyklus-Tracking, und mit jeder Generation neuer Wearables kommt neue Sensorik hinzu: Puls, Körpertemperatur, Sauerstoffsättigung, perspektivisch wohl auch Schätze wie indikative Blutglukose-Werte.
Dass Wearables – wie alle unsere digitalen Begleiter – Daten sammeln, ist natürlich ein alter Hut. Doch worum es mir geht, ist die unfassbar große Chance – und der damit verbundene, nicht minder geringe Handlungsdruck – für Pharmaunternehmen.
Auf der einen Seite ist da das nach wie vor brachliegende Potenzial für Real-World-Evidence, das die Anwendung, Aussagekraft, Skalierung und auch die Kosten klinischer Studien, wie wir sie heute kennen, von Grund auf verändern könnte. Früher waren die Werte eines Schrittzählers natürlich nicht vergleichbar mit unter klinischen Bedingungen erhobenen Bewegungsdaten. Wenn wir aber all den Kontext, den heutige Wearables aus unserem Trend zur Selbstvermessung zusätzlich liefern, einbeziehen, sieht es schon ganz anders.
Wäre da eben nur ein Problem: Wie können Pharmaunternehmen in ihrer Forschung und Produktentwicklung und letztlich so auch Patient:innen von solchen Daten profitieren?
Hoffnung macht da natürlich z. B. die Aussicht auf einen gemeinsamen Europäischen Datenraum. Und so positiv der Effekt einer solchen Einrichtung ganz sicher auch sein wird: Einen Wettbewerbsvorteil wird kein Pharmaunternehmen dadurch gewinnen – denn diese Daten werden eben gemeinsame Daten sein.
Um näher an die Patient:innen, ihre Lebenswirklichkeit, ihren Behandlungskontext und die zugrunde liegenden, hoch schützenswerten Gesundheitsdaten zu rücken, muss sich die Industrie ins Digitale orientieren, Medikation, Software und Hardware als festen Bestandteil praktisch jeder Therapie akzeptieren: Mit DiGA-Kooperationen machen viele Pharmaunternehmen gerade einen (hervorragenden!) ersten Schritt, doch damit darf es nicht getan sein:
Nicht nur die Verarbeitung von Daten zum Nutzen der Patient:innen muss integrale Bestandteile der Therapieentwicklung-, -Begleitung und -Nachsorge sein – auch die Erhebung dieser Daten.
Denn auch, wenn man es nicht glauben mag: Frei, offen oder zumindest leicht verfügbare Daten sind endlich und teuer. So wies beispielsweise der Economist vor Kurzem darauf hin, dass die Entwickler großer KI-Sprach-Modelle bereits jetzt nach neuen Datenquellen suchen: Denn die qualitativ hochwertigen Inhalte aus „dem Internet“ wurden ja bereits für das Training aktueller Modelle verwurstet und die notwendigen Massen nützlicher Inhalte kommen nicht schnell genug nach – schon 2026 könnte hier das Text-Futter ausgehen.
Sicherlich sind Gesundheitsdaten noch einmal etwas anderes, nichtsdestotrotz: Der direkte Zugang zu Patient:innen und eine sichere, partnerschaftliche und einvernehmliche Nutzung von Gesundheitsdaten zum beiderseitigen Vorteil wird in Zukunft von zentraler Bedeutung für die Branche sein.
So, meine Uhr sagt „Schlafenszeit“ – ich beuge mich der allwissenden Handfessel und wir sehen uns in zwei Wochen an dieser Stelle wieder, wenn Sie mögen.
Ihr Torsten Christann
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Torsten Christann
Managing Partner bei Digital Oxygen GmbH
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